Antisemitismus

Jens Scholz
16 min readJun 11, 2021

--

2004 und 2005 schrieb ich für einen kleinen Verein zwei Artikel, in denen ich unseren Mitgliedern einen Überblick darüber geben wollte, was Antisemitismus ist, wie man ihn erkennt und wo er — in der heute in Deutschland internalisierten Form — seine Wurzeln hat. Bitte betrachtet diesen Text daher in dem Kontext, dass er 15 Jahre alt ist und sich an interessierte Laien richtete.

Teil 1: Gefährliche Klischees

Antisemitismus ist ein Begriff, der uns in Deutschland eigentlich sehr geläufig ist oder zumindest sein sollte. Es ist jedoch selbst für differenziert denkende Laien nicht einfach, tatsächlich zu erklären, was denn das eigentlich speziell “antisemitische” an manchen zeitgeschichtlichen Phänomenen ist. Ja sicher, es handelt sich beim Antisemitismus um aus Vorurteilen erwachsene Ressentiments gegen Juden. Wenn man an dieser Stelle jedoch mit der Erklärung aufhört, weiß man zwar, gegen wen sich der Antisemitismus richtet, aber weiß man auch, wann und warum ein Verhalten oder eine Äußerung zurecht als “antisemitisch” bezeichnet wird?

Wie kann man Vorurteile erkennen und vermeiden, wenn man sie nicht kennt, oder wenn man sie gar mit denen des Rassismus oder Chauvinismus verwechselt? Wie kann man verhindern, repressive und diskriminierende Denkmuster und Vorgehensweisen als gegeben hinzunehmen, die wir eigentlich sofort ablehnen müssten, wären wir bloß in der Lage, diese als internalisierte Vorurteile zu erkennen?

Als selbstverantwortliche Menschen sollten wir uns zum einen ohnehin grundsätzlich bewusst darüber sein, in welchem geschichtlichen Umfeld sich unsere Gesellschaft bewegt, und wie die “Werte” und die Moralvorstellungen von diesem historischen Boden, auf dem wir stehen, geprägt ist. Es ist beispielsweise wichtig, zu wissen, warum Deutschland eines der wenigen Länder ist, das die Staatsbürgerschaft auf der Basis von “Blutlinien” vergibt statt auf der Basis des tatsächlichen Geburtsortes — und warum dieser Umstand so eng mit jenem hohen Maß an Ausländerfeindlichkeit verbunden ist, das in diesem europäischen Land mit einem vergleichsweise sehr geringen Ausländeranteil herrscht. (In den östlichen Gegenden Deutschlands scheint mir der Unterschied zwischen realem und gefühltem Ausländeranteil besonders groß zu sein.)

Zum anderen — und dazu sollen dieser und noch folgende Artikel einen Beitrag leisten — müssen wir die Klischees als Klischees erkennen, um sie von der Realität trennen zu können. Dieser erste Artikel wird sich daher nun mit Klischees und deren Zweck beschäftigen.

Klischee als Vorurteil tragendes Element

Antisemitismus funktioniert, wie auch Chauvinismus und Rassismus (die übrigens etwas völlig anderes sind, daher haben sie auch einen anderen Namen) über Klischeebilder. Deren gibt es über Juden viele und, wenn man sie mal gesammelt auflistet, so bemerkt man schnell, wie widersprüchlich diese sind.

Die ältesten dieser stereotypen Vorurteile stammen aus dem gerade frisch christianisierten Rom und sind religiös geprägt. Man ist sich einig, dass die christliche Kirche in letzter Instanz die Hauptverursacherin des weltweit einzigartigen Phänomens ist, dass eine komplette Volksgruppe mit einem derartig miesen Image leben muss (die Theologie versuchte später zunächst, dies den Römern in die Schuhe zu schieben). Diese Klischees sind zum einen das des “Gottesmörders” und auf jenes aufbauend jede Menge andere, die mit grotesken und bösartigen Lügen über ihre Religionsausübung Juden als Ritualmörder und Kindesentführer verunglimpften. Erst vor wenigen Jahren gab es vom Vatikan eine sehr laue Entschuldigung für diese jahrhundertelang im Christentum kursierenden Anschuldigungen.

Ritualmordlegende — in einer Karikatur des NS-Hetzblattes „Der Stürmer“ (1937)

Nun sollte man meinen, solche plumpen Lügen würden mit der Zeit aussterben, da eigentlich nie auch nur irgendjemand jemals einen jüdischen Ritualmord gesehen hat und so etwas nach 1500 Jahren doch mal auffallen könnte, aber selbst solche Klischees wurden durchgehend bis zu den Nazis weiter aufrecht gehalten: Man stellte (im Propagandafilm “Der ewige Jude”) z. B. das Schächten als eine hinterhältige Form von Tierquälerei dar, die die Feigheit und Skrupellosigkeit der Juden beweisen sollte.

Aber auch in der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrhunderte entstanden antisemitische Klischees — je nach Bedarf: Der Jude wurde mit der Zeit gleichzeitig zu Prototyp des Kapitalisten genauso wie zum die Gesellschaft zersetzenden Kommunisten (letzteres Bild bemühte der CDU-Abgeordnete Hohmann im Jahr 2003 skandalträchtig). Er wurde zur Zerrbild des feigen Intellektuellen, der sich vor Verantwortung (und vor allem vor dem Wehrdienst) drückt wie gleichzeitig zum zionistisch-tumben Aggressor, der mit Waffengewalt skrupellos sein Land erweitert.

Die Tatsache, dass sich diese Bilder widersprechen, zeigt, dass es bei ihrer Verwendung letztlich gar nicht darum geht, Handlungen einzelner Personen oder einzelne Vorgänge an sich zu kritisieren, sondern den Juden jeden Weg in die Normalität zu verbauen: Denn wie es “der Jude” macht, ist es verkehrt — es wartet immer ein Klischee auf ihn. Der Catch 22 dieser Methode ist: Egal was er tut, er tut es, weil er “nun mal Jude” ist und kein Mensch wie Du und ich.

Antisemitismus ist geprägt durch die negative, verzeichnete Darstellung von Juden, sowohl allgemein wie auch von Einzelpersonen, wobei beides sich bedingt: Die Negativkraft der Bezeichnung “Jude” wird durch allgemeine Klischees, wie sie z.B. 2002 Jürgen Möllemann mit dem des heimlichen Einflusses der Juden auf die Medien genährt hat, immer weiter ausgebaut. Ist diese verzeichnete Darstellung erst etabliert, kann die ihnen innewohnende Negativwertung danach benutzt werden, um einzelne Personen (wie vor einiger Zeit z. B. Michel Friedman) die geballte diskriminierende Kraft dieses Begriffs anzuhängen, indem man lediglich immer und immer wieder erwähnen muss, dass sie Juden sind. Dieser Rückgriff auf Stereotypen ist im Prinzip die Wirkungsweise des Antisemitismus: Nicht die direkte Kritik an einer repressiven Politik in Israel (also Sachkritik) ist daher das, was im damaligen Möllemann-Konflikt wie auch aktuell von Anfang an von aufmerksamen Beobachter:innen als antisemitisch bezeichnet wurde, sondern der absichtliche Bezug auf antisemitische Klischees.

Erfolgt von solchen Beobachter:innen der Vorwurf, dass eine angeblich sachliche Äußerung antisemitische Stereotypen verwendet, versuchen Antisemiten natürlich umgehend, den Eindruck zu erwecken, der Antisemitismus-Vorwurf richte sich auf den sachlichen Aspekt ihrer Kritik. So kann das nächste Klischee bedient werden: Die Juden “beherrschen die Medien”, und wer die repressive Politik in Israel “ganz sachlich” kritisiert, der wird von den Medien “sofort” als Antisemit diffamiert. Ein solcher Rückgriff auf dieses oder ein anderes Klischee ist leicht, denn es gibt ihrer so viele über Juden und andere Minderheiten, dass ein Antisemit jederzeit auf ein passendes zurückgreifen kann.

Wir und Die: Diskriminierung und Ausgrenzung

Seitdem die christlichen Kirchen damit begonnen hatten, ist die Absicht hinter solchen Verhaltensweisen immer dieselbe: Die Juden sollen aus dem Weltentwurf ausgeschlossen werden. Sie sollen sich gefälligst raushalten, ein möglichst unauffälliges Profil entwickeln und wenn dann mal einer von ihnen etwas auffälliger wird, dann “darf der sich nun mal nicht wundern”, wenn er — wie auch immer — abgeschossen wird, sobald sich die Gelegenheit bietet. Man las den Spruch “wer hoch fliegt, fällt tief” im Zusammenhang mit Michel Friedmans “Absturz” ja überall in den Medien, ob das die rechte “Welt” oder der linke “SPIEGEL” war. Dass “gerade Juden” gefälligst nicht hoch zu fliegen haben, entspricht genau der Zielsetzung des Antisemitismus und jeder anderen Form der Ausgrenzung (wir hören diese Form des Victim Blaming zB jedes Jahr zum Christopher Street Day).

Das Dritte Reich hat dieses Ziel des Ausschlusses der Juden aus der Weltgestaltung physisch bislang am ernsthaftesten und skrupellosesten verfolgt, aber den Antisemitismus erfunden hat es nicht. Weshalb es auch nichts nützt, unsere nationalsozialistische Vergangenheit nun langsam aber sicher in der Geschichte verschwinden lassen, denn der Antisemitismus verschwindet nicht mit ihr: Die Festlegung, was Juden dürfen und was nicht, ist wesentlich älter und sitzt tiefer (dazu später mehr).

Diskriminierung funktioniert also vor allem durch die Nutzung von Klischeebildern mit dem Ziel, die diskriminierte Partei aus der gesellschaftlichen Norm zu drängen. (Das gilt auch für Normen, die nicht allgemeingültig sind: Dämonisiert wird auch in Sub- und Individualkulturen). Ich möchte im folgenden Abschnitt ein wenig näher auf diesen Verdrängungsmechanismus eingehen.

Die Sprache des Antisemiten

Vorurteile und Diskriminierung zielen auf ein ganz bestimmtes, neurotisch vereinfachtes Weltbild hin: die polare Weltsicht. Ein Denken in polaren Gegensätzen, eine absolute, grundsätzliche Unterscheidung in “uns” und “die” ist immer gefährlich; ich will hier am Beispiel des Antisemitismus zeigen, warum.

Die Sprache der Diskriminierung arbeitet seit jeher mit Antonymen. Antonyme sind Wort-Gegenwort-Paare, die eine polare Werttrennung erzeugen und so eine begriffliche Schwarz-Weiß-Sicht zwangsläufig machen, wenn man sie benutzt. Der Antisemitismus benutzt solche Antonyme schon lange. Auch hier sind die christlichen Schriftsteller historisch führend darin, das Gegensatzpaar Christen und Juden durch Wort-Gegenwort-Paare zu erklären: Georg Nigrinus (1570) schrieb, die Juden würden stets “Gutes mit Bösem, Liebe mit Hass” vergelten, Philip von Allendorf verfasste 1606 eine Schmähschrift namens “Der Jüden Badstub”, die Charaktereigenschaften entsprechend aufteilte (“Leugt schon der Jüd/ der Christ redt wahr …” und so weiter).

Im 19. Jahrhundert war diese polare Typisierung nicht mehr nur auf religionsspezifische Charakterisierung beschränkt. Heinrich Marcard schrieb 1843 in “Die Germanen”: “Dem jugendlich frischen, geraden, jeder Begeisterung und der allgemeinen Menschlichkeit offnen germanischen Stamm konnte das verlebte, verschlossene, kalt berechnende und doch unruhige (…) Wesen des Juden nicht zusagen.”(S. 40) Keine hundert Jahre später war die Polarisierung in der Gesellschaft so eindeutig, dass man nicht mehr prosaisch verkleiden musste, was man unter die Leute bringen wollte. Der Stürmer (Nr. 2, 1937) druckte einfach eine Liste mit Gegensätzen unter der Überschrift “Zweierlei Rassen — Zweierlei Eigenschaften” ab, in der eigentlich ganz allgemeine positive und negative menschliche Charaktereigenschaften zwischen Ariern und Juden aufgeteilt wurden. (Genügsamkeit — Profitgier, Sparsamkeit — Protzentum [der Autor gibt sich nicht erst die Mühe zu verschleiern, dass sich diese direkt hintereinander genannten Paare widersprechen — J.S.], Ehrlichkeit — Betrügerei, Fleiß — Raffsucht, usw.).

Satirische Postkarte über antisemitische Klischees (um 1900)

Wozu macht man das? Ganz einfach: Solche Gegenüberstellungen waren die Vorarbeit dafür, dass man nicht mehr ständig negative Charaktereigenschaften aufzählen musste, um Juden diffamierend zu beschreiben. Sondern man konnte dann den Begriff einfach durch das Wort ersetzen, das die auszugrenzende Gruppierung beschrieb. Es gab dann das Judengehirn, die Judengeschäfte, den Judenarzt usw. . Die Gegengruppe war ab diesem Zeitpunkt sprachlich und gesellschaftlich abgespalten: Es gab den Menschen und den Unmenschen. Den Deutschen und den Juden. Diese polare Weltaufteilung ist, da sie eigentlich auf eine künstliche Trennung von völlig allgemeinen und weder mit Religions- und Landeszugehörigkeiten zu verbindenden normalen menschlichen Eigenschaften aufbaute, natürlich unsinnig, aber sie bot den Menschen leider etwas, was sie gerade in Krisenzeiten gerne hatten: Eine einfache Welt, unterteilt in uns als Gute und die als Böse.

Kein Wunder, dass Antonyme auch heutzutage wieder stark — zu allem Übel auch noch vor allem in der Mediensprache — vertreten sind, so dass die Bereitschaft, das entsprechende Denkschema unbemerkt aufzugreifen, gefährlich gewachsen ist. Man hört ja oft die Argumentation, die Welt sei “so kompliziert” geworden, die Moral so wenig greifbar, weil es keine klaren Werte mehr gebe. Vereinfachungen werden daher gerne angenommen, und sie werden gerne benutzt. Sobald dies aber zur Diffamierung geschieht, z.B. wie momentan von allen politische Lagern (!) vehement die Faulenzer und “Sozialschmarotzer” von den Steuerzahlern und der “arbeitenden Bevölkerung” unterschieden werden, muss man aufpassen: Hier soll ich manipuliert und in ein polares Weltbild gedrängt werden.

Polare Weltbilder und ihre Realitätsbeschreibungen sollten nicht mit einer gerechten Darstellung unterschiedlicher Meinungen oder sogar einem Kampf zwischen zwei Prinzipien (Yin und Yang etc.) verwechselt werden. Polare Weltbilder beinhalten nicht zwei gegensätzliche Meinungen, sondern nur eine, die richtige! Die beiden Pole stehen sich nicht gegenüber, sondern gleichsam untereinander. Es geht um Wert und Unwert, Wahr und Falsch. Polare Weltbilder haben nämlich nur einen Sinn: Sie sollen eine Bedrohung aufbauen. Der Diskriminierte bedroht mich, ich werde das Opfer seiner geballten negativen Eigenschaften. Der Pole stielt mein Auto, der Jude mein Geld und meine Meinung. Der Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger stiehlt meinen Wohlstand, der Streikende meinen Arbeitsplatz. Wer in einer polaren Welt lebt, der lebt in einem ständigen Kampf gegen das Böse — und gegen das Böse ist nun mal jedes Mittel Recht!

Das “Es muss doch mal erlaubt sein …”-Problem

Im Zusammenhang mit antisemitischen Eklats taucht immer wieder gerne eine Floskel auf, die in einem merkwürdigen Tonfall “Meinungsfreiheit” einfordert. Ob sie von Politikern wie Möllemann oder von Herausgebern esoterischer Zeitschriften wie Wolf Schneider ausgesprochen wird, die Einleitung: “Es muss doch erlaubt sein ….”, gefolgt von einer durchaus inhaltlich berechtigten Kritik an z.B. der israelischen Außenpolitik, suggeriert zusammen mit einem Gestus der Empörung, dass die Meinungsäußerung nicht erlaubt ist und dass Kritiker der israelischen Politik mundtot gemacht oder als Antisemiten beschimpft werden.

Das jedoch würde bedeuten, dass die Presse oder andere Informationsorgane von “den Juden unterwandert” sind, was genau wie oben geschildert ein sich hartnäckig haltendes, freilich völlig realitätsfremdes, Vorurteil ist. Wie falsch diese Aussage insgesamt ist, zeigt ja der Umstand, dass Israels Politik durchaus ständig scharf und eindeutig kritisiert wird. Kein Reporter wird dafür vom israelischen Geheimdienst Mossad verschleppt oder von seinem Sender/seiner Zeitung abgemahnt. Und ganz, ganz selten wird mal einem vorgeworfen, antisemitisch zu sein. Und wenn dann doch, dann kann man aber fast sicher sein, dass er auch entsprechende Scheiße verzapft hat und der Vorwurf berechtigt ist.

… man muss doch mal sagen dürfen, dass …Ausschnitt aus der 2002 verteilten FDP-Wahlkampfbroschüre

Eine andere Äußerung Möllemanns, die er sich während seines Konfliktes mit Michel Friedmann leistete und vom deutschen Stammtisch brav wiederholt wurde, funktioniert ähnlich: “Kein Christ und kein Muslim in einer Position wie Friedman würde eine solche Sendung im Fernsehen bekommen.” Auch dieser Spruch transportiert dasselbe antisemitische Klischee: Die Juden hätten eine Sonderstellung, sie beeinflussen die Medien, sie verschaffen sich Vorteile durch die Aufrechterhaltung eine schlechten Gewissens usw. .

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Möllemanns zweites Zitat ist natürlich auch ohne Mühe zu widerlegen. Talkshows, in denen ein Moderator stark polarisiert oder seine Gäste reizt und gegeneinander aufwiegelt, sind kein neues Sendekonzept. Es gab sie früher wie heute, in allen Ländern und Sendern. Zählt man da die jüdischen Moderatoren, ist diese Behauptung eigentlich entlarvt. Doch wie wir gesehen haben, reicht — sobald ein Klischee stark genug im Denken der Menschen integriert ist — schon die Nennung eines einzigen Falles aus, um ein Vorurteil zu bestätigen.

Jens Scholz, Oktober 2004

Teil 2: Das Christentum - Ursprung einer Zweitausendjährigen Hetzkampagne

Man rückt ja eigentlich nicht gleich mit der Pointe raus, aber in diesem Fall ist sie — oder sollte sie zumindest sein — ohnehin bekannt: Der Ursprung des Antisemitismus, einer in Umfang, Hartnäckigkeit und Konsequenzen beispiellosen Diffamierungs- und Verfolgungskampagne, liegt im Christentum. Dies ist in der christlichen Theologie natürlich schon längst nicht mehr umstritten, verwunderlich aber ist es doch, dass obwohl sich die offiziellen Stellen sehr eindeutig und bewusst zu diesem Thema äußern, an der Basis der christlichen Kirchen nur selten eine Auseinandersetzung mit ihren judenfeindlichen Gründern und der eigenen Geschichte stattfindet oder schlimmer, dass die alten Vorurteile und Abgrenzungsschemata weiterhin kolportiert und gelehrt werden.

Beispiel Talionsgesetz

Eines der Lieblingszitate aus dem alten Testament, das gerne zur Beschreibung von harten Vergeltungsmaßnahmen gebraucht wird, ist das im Buch Exodus 21,24 genannte Talionsgesetz. Luther übersetzte diesen Part mit “Auge um Auge, Zahn um Zahn” und er wird als Rumpfzitat nach wie vor und immer wieder zum Beweis eines “jüdischen Gesetz(es) der Wiedervergeltung” (Jerusal. Bibel Freiburg, Fußnote) herangezogen.

Zu Beginn der 2000er Jahre wurde dieser Begriff einmal mehr inflationär bemüht, um den Vorgang einer vorchristlichen Blutrache zu beschreiben, die Herr Bush jr. exemplarisch an all den bösen Schurkenstaaten dieser Welt zu statuieren gedachte. Auch im Zusammenhang mit dem Vorgehen der israelischen Exekutive gegen die palästinensische Bevölkerung taucht er häufig in den Medien und in den Predigten von Pfarrern und Pastoren auf. Die Idee dahinter ist eine, die jeder Mensch, der einen normalen Religionsunterricht in der Schule genossen hat, verinnerlichen konnte: Der christliche Gott des Neuen Testaments ist der gütige, liebende, vergebende — der des Alten Testaments dagegen der eifersüchtige, rachsüchtige und strenge Gott.

Gemeint ist mit dieser Thora-Stelle aber eigentlich etwas völlig anderes, nämlich: Der Schädiger muss dem Geschädigten einen Ersatz für das Organ geben, das seine Funktion ersetzt. Dies ist die Einführung des Prinzips “Wiedergutmachung statt Vergeltung” und entsprechend ungeheuerlich ist es, dass diese Bibelstelle ständig zum Beweis genau des Gegenteils herangezogen wird. Der Fehler liegt rein linguistisch in der Übersetzung des Wortes “tachat”: es heißt nicht “um”, sondern “an Stelle von”, es ist somit überhaupt nicht vom Geschädigten die Rede, der Rache nehmen soll, sondern der Schädiger wird zur Wiedergutmachung aufgefordert. Die Abgeltung durch Schadensersatz ist nämlich schon lange vor Jesus Rechtsprinzip (Talmud BQ 83b-84a; Ketubot 38a) bekannt gewesen. Die Stelle heißt also eigentlich “Gib ein Auge für ein Auge und einen Zahn für einen Zahn”.

Die den alten Juden zugeschriebene Lust auf Rache wird im Alten Testament explizit verdammt: Lev 19,18 sagt “Sei nicht rachsüchtig, (…) sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst” und genau diese Bibelstelle ist es, die Jesus im Neuen Testament zitiert und nicht etwa als neues Prinzip erfindet. Jesus war gläubiger Jude und hat nichts anderes verbreiten wollen als jüdischen Glauben.

Eine andere Stelle, die als Beweis für den Rachegott herhalten muss, ist Dt 32,35: “Mein ist die Ahndung” (nicht die Rache, J.S.) “spricht der Herr”. Der Sinn dieser Mahnung wird, wenn sie als Beispiel für die angebliche jüdische Rachereligion verwendet wird, komplett verdreht, denn eigentlich will hier nur gesagt sein, dass Rache verboten und dem Menschen Gerechtigkeit von Gott widerfahren wird. Lev. 19,18 sagt folgerichtig “Du sollst nicht vergelten!”.

Dies ist der aktuellen christlichen Theologie eigentlich wohlbekannt, dennoch wird auch heute noch im Kommunions- und Konfirmationsunterricht das Talionsgesetz in bekannt falscher Form zur bekannt unkorrekten Argumentation genutzt.

Die Gottesmörder

Dass hier ein einfacher, versehentlicher Übersetzungsfehler Schuld an einem Vorurteil sein könnte, wäre eine angenehme Erklärung. Vielmehr ist jedoch Luthers Lesart natürlich einer schon längst verinnerlichten Haltung dem Judentum gegenüber geschuldet und von dieser motiviert.

Mit dem um 50 n.Chr. vermuteten Entstehungsjahr gilt als die älteste klar antisemitische Quelle der dem Apostel Paulus zugeschriebene Brief an die Thessaloniker. In ihm wird im Prinzip schon die gesamte Bandbreite antisemitischer Argumentation abgesteckt: Der Brief schildert den Christusmord als Höhepunkt einer jüdischen Tradition der Feindschaft allen anderen Menschen gegenüber, die die Juden mit Mordlust und winkeladvokatorischer Hinterlist hochmütig ausübten und noch immer ausüben. Hierfür ereilt sie am Ende dann das (dem christlich vergebenden Sinne freilich völlig entgegenstehende) Strafgericht:

“Denn, Brüder, ihr habt das Beispiel der Gemeinden Gottes nachgeahmt, die in Judäa in Jesus Christus sind, da auch ihr ebendaselbe von euren eigenen ungläubigen Volksgenossen erlitten habt wie sie von den Juden, welche auch den Herrn getötet haben, Jesus, und seine Propheten und uns verfolgt haben und die Gott nicht zu gefallen suchen und gegen alle Menschen feindselig sind indem sie, um das Maß ihrer Sünden jederzeit voll zu machen, uns verwehren, zu den Ungläubigen zu sprechen damit sie gerettet werden. Doch das Zorngericht ist endgültig über sie gekommen” (1 Thess 2,14–16)

Die christlichen Evangelien, allesamt später entstanden, haben diese Argumentation in die Biographie Jesu mit Nachdruck eingearbeitet, so dass aus der Geschichte eines jüdischen Wanderpredigers die Geschichte einer Religionsstiftung wurde. Letzteres zu tun ist für sich genommen kein problematisches oder ehrenrühriges Vorgehen, jedoch durchaus scharf zu kritisieren ist die perfide Art und Weise, mit der dies auf Kosten der Ursprungsreligion getan wurde.

Vor allem das Johannes-Evangelium tritt hier auffällig hervor, ist es doch dasjenige, in welchem die römischen Besatzer in Person des Jerusalemer Statthalters Pontius Pilatus von der Verantwortung des Todes Jesu enthoben und eine klare Schuldzuweisung an die Juden im Generellen (in den anderen Evangelien werden ja noch die Pharisäer und Sadduzäer als Jesu Gegner vorgestellt) ausgesprochen wird, indem Jesus selbst die Juden zu Kindern des Teufels erklärt:

“Nun aber sucht ihr, mich zu töten. (…) Ihr tut die Werke eures Vaters (…) und stammt vom Teufel als eurem Vater ab und wollt die Gelüste dieses euren Vaters tun. Der ist von Anfang an ein Menschenmörder und stand nicht in der Wahrheit” (Joh 8,40–44)

Hass als Abgrenzung

Worum geht es hier? Warum wurde hier ein Unterschied konstruiert, den es vorher nicht gab und der für eine Volksgruppe für die kommenden 2000 Jahre so fatale Folgen hatte? Und wie ist der politische Opportunismus gegenüber den Römern zu bewerten?

Es geht um Legitimation. Das Christentum beansprucht für sich, Erbe des alten Israel zu sein, das Judentum als die von Gott selbst gestiftete Religion und die Juden als das von Gott bevorzugte Volk abgelöst zu haben. Diese kleine, gerade erst gegründete Kirche der römischen Antike erklärte sich damit als direkte Weiterführung einer traditionsreichen, uralten Religion. Ein Anspruch, der nur dadurch begründet werden konnte, indem dieser tatsächlichen, ja noch existierenden traditionsreichen Religion die Daseinsberechtigung radikal aberkannt wurde.

Das wurde von den Vätern des Christentums wie dem römisch gebildeten Paulus als notwendig erachtet, weil die Christen in seiner hellenistisch geprägten Welt — in der das hohe Alter des Judentums als ein Siegel der Wahrheit galt, von der immerhin Philosophen wie Plato geschwärmt und gelernt hatten — keine Chance gehabt hätten, mehr zu sein als eine kleine Sippe von Häretikern.

Da man unter diesen Umständen nicht umhin kam, die alten Schriften der Tora in der neu gedeuteten Form des “Alten Testaments” beizubehalten, musste man den Juden die bis dahin unwidersprochene Deutungshoheit vor allem in Form des Talmud abnehmen. Nur das “wahre Israel” jedoch, als das sich die Kirche verstand, konnte die Schriften korrekt verstehen und bis heute werden die Juden ständig von den christlichen Kirchen mit Debatten über das rechte Schriftverständnis — die Christen nennen das dann den jüdisch-christlichen Dialog — belästigt.

Den Anfang machte Augustinus (354–430), der schon auf Grund des, dummerweise nicht stattgefundenen, erwarteten schnellen Niederganges der jüdischen Religion die Idee des Judentums als ewige Strafe einbrachte (“Er ließ sie nicht sterben sondern lebend allen zum Beispiel dienen (…) sie müssen als Juden weiterleben, solange die Kirche ihrer Zeugschaft bedarf.”), ein Bild das über ein paar weitere Kirchenprominenzen bis zum 12. Jahrhundert einen festen Platz in der Kirchendogmatik und spätestens 1602 in der mythischen Gestalt des “ewigen Juden” eine Verbildlichung fand: dem Juden, der nach Joh. 18,22 Jesus beim Verhör geschlagen habe (oder in einer weiteren Version der Jude, der Jesus beim Kreuzgang nicht vor seinem Haus rasten lassen wollte) und nun zur Strafe bis zur Wiederkehr Christi unsterblich auf der Erde wandeln müsse.

1242 gab es eine zielgerichtete Kampagne von Niklaus Donin von La Rochelle gegen den Talmud, die in einer Talmudverbrennung in Paris gipfelte, da man in seinen unchristliche Bibelauslegungen den Grund für den Unglauben der Juden vermutete.

Eine weitere, neue Vehemenz brachte dann Martin Luther zu Beginn des Protestantismus ein. Der veröffentlichte 1543 seine antisemitische Hetzschrift “Von den Juden und ihren Lügen”, in der er die falschen, also nicht christlich verstandenen Auslegungen der Schrift, seitens der rabbinischen Literatur als Lügen verstanden wissen wollte.

Karl-Erich Grözinger kommt zu einem entsprechend klaren Urteil:

“Die Kirche hat das Judentum enteignet und ihm seine Identität abgesprochen und für sich selbst in Anspruch genommen. Dies ist die christliche Ursünde gegen das Judentum, der Rest sind die praktischen Folgen.”(1)

Es ist — und wie schon erwähnt ist die Theologie hier keineswegs anderer Meinung — eindeutig belegbar, dass die entscheidende Grundlegung des Antisemitismus von der christlichen Religion ausging. Die antijüdischen Ausbrüche in der Antike sind hiermit nicht vergleichbar, solche gelegentlichen Feindlichkeiten sind immer wieder vorgekommen, auch gegen andere Volks- oder Religionsgruppen und auch seitens der jüdischen Völker.

Nein, mit dem Christentum ist hier etwas völlig neues aufgetreten, nämlich der Antijudaismus als eine reine Lehre, ohne Notwendigkeit der konkreten Anschauung und auch ohne konkrete Juden, die diese Lehre eventuell sogar stören hätten können. Parkes beschreibt das in “Judaism and Christianity” (London, 1948) so:

“Das prinzipiell neue am Schicksal der Juden in christlicher Zeit ist, dass die christliche Einstellung nicht mehr, wie die heidnische, auf aktuellen Erfahrungen mit Juden, sondern auf der Auslegung einer mit göttlicher Autorität ausgestatteten Beschreibung des jüdischen Charakters und der jüdischen Geschichte beruhte.”(2)

Und genau das führte zu einer mit der intensiven Ausbreitung des Christentums gleichzeitig stattfindenden Ausbreitung des darin noch immer fest verankerten Antisemitismus.

(1) Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hrsg.): Antisemitismus — Vorurteile und Mythen; “Erstes Bild: Die Gottesmörder”; München 1995
(2) James William Parkes: Judaism and Christianity, London 1948

Jens Scholz, September 2005

--

--

Jens Scholz
Jens Scholz

No responses yet